Inge Wrobel: Der Baum
Der Baum
© Inge Wrobel
Wurzeln habe ich geschlagen
dort, wo man mich angepflanzt.
Schien es mir schwer zu ertragen,
bin ich aus der Reih getanzt.
Hab nur kurze Wurzeltriebe,
Heimaterde kenn ich nicht.
Wenn ich mal gern länger bliebe,
lacht der Sturm mir ins Gesicht:
reißt die kurzen Wurzeln, senkt sie
dort, wo es grad ihm gefällt.
Und mein Wunsch, zu bleiben, lenkt die
Kraft in diese neue Welt.
Ja, der Stamm: ergraut in Jahren,
trocken, brüchig, oft verletzt;
viel ist ihm schon widerfahren –
möcht zur Ruhe kommen jetzt.
Doch da sind ja noch die Äste,
tröstend mischen sie sich ein:
„Wir sind hier doch nicht nur Gäste,
werden immer bei dir sein.
Sind Familie, Freunde, Liebe,
weit verzweigt und immer neu;
bilden jährlich neue Triebe –
du bist jedes Mal dabei!“
Schon getröstet denkt der Baum doch,
dass noch irgendetwas fehlt.
Etwas Schönes für den Geist noch,
dass er merkt, dass er beseelt.
Da tönt oben aus den Zweigen
Vogelzwitschern und Gesang
und ihm scheint, sie wolln sich neigen
dass er höre diesen Klang.
Ach, lässt das den Baum nun denken,
bin zwar heimatlos hienieden,
doch ich find bei solch Geschenken
auch mit kurzen Wurzeln Frieden.
***
© Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Vervielfältigungen jeglicher Art nur mit Zustimmung des Autors.
***
Dieses Gedicht stammt aus dem eBook
Inge Wrobel und Ronald Henss
Herbstlaub
Gedichte und Fotos
eBook Amazon Kindle
***
*
Stichwörter:
Foto, Bild, Gedicht, Baum, Inge Wrobel
Kommentar verfassen